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Winter in Tbilissi

Winter in Tbilissi

Eine Impression aus unserer Lieblingsstadt

Schneeflocken tanzen schräg im Januarlicht. Das Wetter am Gefrierpunkt ist unentschieden: „Graupelschauer, auf den höheren Lagen der Stadt – Glatteis im Neuen Jahr!“

In diesen Zeiten schlafen die Tbiliselebi wie kachetische Siebenschläfer weit in den tiefen Vormittag, gern bis 12 oder zwei. Niemand will sich durch ein verfrühtes Aufstehen an den Feiertagen leichtsinnig erkälten.

Die Frauen rollen sich wie Nofreteten in Wolldecken auf ihrem Gang in die eiskalten Küchen.

Die Chashi-Knochenbrühe ist das Wundermittel gegen die Pachmelia…

Eine einsame Seele steht klamm vor einem Geldautomaten. Ein anderer muss seine Gasrechnung Cash in Lari bezahlen. Ein junger Mann flitzt über die Lortkipanidze Straße. Ein Bus rast hoch die steilen Eisstraßen in Richtung Kodjori.

Gemüse und Blumen werden auch im Schneematsch verkauft.

Doch die Stadt gehört heute all den seltsamen Skulpturen aus Bronze oder Blech, die ein lebendiges Theater aufzuführen scheinen. Die nassen Spatzen und die gerupften Tauben applaudieren im Matsch.

Ein Equadorianer, ein Afghane und ein betrunkenes serbisches Pärchen haben sich in die Gassen verlaufen. Sie kichern und schnaufen und es schwanen menschliche Gefühle, ob des trolligen Tanzes der kaukasischen Puppen.

In den kleinen Wohnungen mit den schiefen, dünnen Wänden und den Blechdächern sitzen die Menschen eng beisammen. Manche trinken Tee, jemand ruft, Kartenspiel. Andere würfeln.

Im Kanonenofen verfeuert einer mißlungene Ölbilder aus Sperrholz. Die vertrocknete Ölfarbe zündelt, das verleimte Holz knattert.

Kala, Sololaki und Mtatsminda heißen die Bezirke. Man lebt seit Generationen hier, aber auch Zugezogene sind Nachbarn geworden.

Eine Großmutter hat zwei Eier gekauft, ein Festmahl. Andere Leute können sich eine maisgelbe Hühnersuppe mit Reis und Knoblauch leisten. Rudel von Katzen tapsen über die verbeulten Autodächer und balancieren auf Containern.

Geheizt wird elektrisch oder mit Gas aus wild verlegten Leitungen. Träume wärmen die Herzen.

Der Schnee taut klapp, klapp, klapp.
Jemand erlebt seine letzten Momente.
Bald sind Blumen für eine Beerdigung notwendig. Ein Verwandter bietet nun sein altes Auto zum Verkauf an. Eine einsame Nachbarin schreibt einen Brief.

Der Croupier im Casino sagt: „Nichts gilt mehr. Nur das Risiko zählt.“

Ihr habt ganz was Falsches gedacht. So meinten wir das doch gar nicht. Die Rechnung ging nicht auf und wurde ohne Euch gemacht.

Menschen sind heute einfach Existenzen.

Ein kleines Königreich für einen großen Wodka. Der alte Mercedes springt an, raucht. Funken fliegen aus dem Kühler. Der Auspuff spuckt Wolken aus Wasserdampf.

 
Ich fühle mich schlecht, wie ich mich an den frierenden Bettlern von Sioni vorbeischleiche.

Im Januar nach den ewigen Festtagen aus zwei Kalenderwelten herrscht Katerstimmung. Nur die spielenden Kinderseelen sind nicht allein.


10.1.2023
Hans Heiner Buhr

Die komplette Serie meines Fotostreifzugs können Sie auf hier sehen
https://www.kaukasus-reisen.de/impressionen/ein-streifzug-durch-tbilissi-im-januar-2023/